Multiple Sklerose: Symptome, Diagnose, Therapie
Multiple Sklerose: Therapie
Die Multiple Sklerose-Therapie stützt sich auf verschiedene Säulen:
- Schub-Therapie: Darunter verstehen Ärzte die Akut-Behandlung von MS-Schüben, bevorzugt mit Glukokortikoiden (“Kortison”). Alternativ ist manchmal eine Art Blutwäsche namens Plasmapherese bzw. Immun-Adsorption hilfreich.
- Verlaufsmodifizierende Therapie (Basis-Therapie, Immun-Therapie): Ziel ist es, durch die längerfristige Anwendung bestimmter Medikamente (Immun-Therapeutika) den Verlauf einer Multiplen Sklerose günstig zu beeinflussen.
- Symptomatische Therapie: Sie umfasst Maßnahmen zur Linderung verschiedener MS-Symptome, zum Beispiel Physiotherapie oder krampflösende Medikamente bei schmerzhaften Muskel-Verkrampfungen.
- Rehabilitation: Ziel einer Reha bei Multipler Sklerose ist es, den Betroffenen die Rückkehr in ihr familiäres, berufliches und soziales Leben zu ermöglichen.
Um die Therapie-Ziele zu erreichen, werden Menschen mit Multipler Sklerose abhängig von ihren individuellen Bedürfnissen von vielen verschiedenen Therapeuten und ärztlichen Fachrichtungen behandelt. So zählen zum Behandlungs-Team bei MS neben diversen Ärzten (wie Neurologe, Augenarzt, Urologe oder Hausarzt) beispielsweise auch Psychologen, Physio-Therapeuten, Ergo-Therapeuten, Logopäden, Pflegepersonal und Sozialarbeiter.
Schub-Therapie
Es ist ratsam, einen MS-Schub möglichst bald nach Beginn der Symptome zu behandeln. Die Therapie der Wahl ist die Gabe von “Kortison” (Glukokortikoid, Kortikosteroid). Alternativ wird in bestimmten Fällen eine Plasmapherese durchgeführt.
Kortison-Therapie
Standardmäßig führt der Arzt zur MS-Schubtherapie eine hochdosierte Kortison-Behandlung (Kortison-Stoßtherapie, Kortison-Pulstherapie) über drei bis fünf Tage durch. Am häufigsten kommt dabei Methylprednisolon zum Einsatz, und zwar als Infusion direkt in eine Vene (intravenös) in einer Dosierung von 500 bis 1.000 Milligramm (mg) pro Tag.
Bevorzugt sollte das Kortison in einer Dosis am Morgen gegeben werden, weil es bei einigen Menschen Schlaf-Störungen verursacht. Wenn bei einem Betroffenen eine intravenöse Kortison-Gabe nicht möglich ist, weicht der Arzt unter Umständen auf Kortison-Tabletten aus.
Die Kortison-Stoßtherapie verkürzt die Schubdauer und fördert die Rückbildung der Symptome. Wenn sie unzureichend wirkt, empfehlen Experten eine Steigerung (Eskalation) der Therapie: Möglich ist eine ultrahoch dosierte Kortison-Gabe mit bis zu 2.000 mg/Tag über drei bis fünf Tage. Je nach Schwere und Dauer der Symptome erwägt der Arzt alternativ oder anschließend auch eine Plasmapherese oder Immun-Adsorption.
Nebenwirkungen:
Mögliche Nebenwirkungen der Kortison-Stoßtherapie bei Multipler Sklerose sind neben den oben erwähnten Schlaf-Störungen unter anderem leichte Stimmungs-Änderungen, Magen-Verstimmung, Gesichts-Rötung und Gewichts-Zunahme.
Plasmapherese bzw. Immun-Adsorption
Eine sogenannte Plasmapherese (PE) beziehungsweise Immun-Adsorption (IA) kommt in Frage, wenn:
- nach Abschluss der Kortison-Stoßtherapie weiterhin behindernde neurologische Funktions-Störungen bestehen oder
- während der Kortison-Stoßtherapie fortschreitende besonders schwere MS-Schübe auftreten.
Bei der Plasmapherese beziehungsweise IA handelt es sich um eine Art Blutwäsche. Mit einem speziellen Gerät wird das Blut über einen Katheter aus dem Körper herausgeleitet, filtriert und dann wieder in den Körper zurückgeführt. Zweck des Filtrierens ist es, Immunglobuline aus dem Blut zu entfernen, die für den Entzündungsprozess während eines MS-Schubes verantwortlich sind.
Der Unterschied zwischen Plasmapherese und Immun-Adsorption besteht darin, dass bei der Plasmapherese unspezifisch Plasma (einschließlich enthaltener Immunglobuline) aus dem Blut-Kreislauf herausgefiltert und durch eine Eiweiß-Lösung (Albumin-Gabe) ersetzt wird. Dagegen werden bei der Immun-Adsorption spezifisch nur die für die Entzündungsprozesse verantwortlichen Immunglobuline aus dem Blut “herausgefischt”.
Es ist unklar, ob eines der Verfahren dem anderen überlegen ist oder beide gleich wirksam bei Multipler Sklerose sind.
Die Plasmapherese bzw. Immun-Adsorption erfolgt normalerweise stationär in darauf spezialisierten MS-Zentren, im Idealfall in den ersten sechs bis acht Wochen nach Beginn eines MS-Schubes. Unter Umständen ist die PE/IA auch schon zu einem früheren Zeitpunkt sinnvoll, etwa wenn ultrahochdosierte Kortison-Infusionen bei einem Betroffenen nicht möglich sind.
Nebenwirkungen und Komplikationen der Plasmapherese bzw. Immun-Adsorption sind zum Beispiel:
- Störungen der Blutdruck-Regulation
- Nierenschäden
- Tetanie-Symptome (Störungen der Motorik und Sensibilität durch übererregbare Muskeln, etwa in Form von Muskel-Krämpfen, Kribbeln und andere Miss-Empfindungen), verursacht durch ein gestörtes Gleichgewicht der Blut-Salze (Elektrolyte) [bei PE]
- Gerinnungs-Störungen [vor allem bei PE]
- Nebenwirkungen und Komplikationen einer eventuell notwendigen medikamentösen Blutverdünnung (Antikoagulation), wie zum Beispiel vermehrte Blutungsneigung
- Allergische Reaktionen (etwa auf das zugeführte Albumin bei PE oder auf die zum Filtern des Blutes verwendeten Membranen)
- Mechanische Irritationen oder Komplikationen wie Blutungen oder Gerinnsel-Bildung durch Verwendung großer Katheter
- Infektionen im Bereich des Katheter-Zugangs (bis hin zur Blutvergiftung)
- Sehr selten: Lungen-Ödem/transfusionsbezogenes aktives Lungen-Versagen [bei PE]
Verlaufsmodifizierende Therapie
Eine verlaufsmodifizierende Therapie (Immun-Therapie, Basis-Therapie, Verlaufs-Therapie) besteht in der langfristigen Gabe von sogenannten Immun-Therapeutika. Dazu zählen Wirkstoffe, welche die Aktivität des Immunsystems unterdrücken (Immun-Suppressiva) beziehungsweise Immun-Reaktionen gezielt verändern (Immun-Modulatoren).
Die Immun-Therapie ist zwar nicht in der Lage, eine Multiple Sklerose zu heilen, kann sie aber im Verlauf günstig beeinflussen. Den größten Effekt zeigt sie bei schubförmig verlaufender MS, also bei schubförmig remittierender MS sowie aktiver sekundär progredienter MS.
Dabei bezeichnen Ärzte mit “aktiv” das Auftreten von Schüben und/oder neuen oder sich vergrößernden entzündungsbedingten Schäden im ZNS. In diesen Fällen ist es durch die Therapie mit MS-Immun-Therapeutika möglich, die Schubrate zu reduzieren sowie den fortschreitenden Behinderungen entgegenzuwirken, die durch die Schübe verursacht werden.
Bei nicht aktiver SPMS sowie bei primär progredienter MS ist die Wirksamkeit der Immun-Therapie geringer. Die Anwendung bestimmter Immun-Therapeutika ist manchmal aber dennoch hilfreich.
Arten von Immun-Therapeutika
Derzeit stehen folgende Immun-Therapeutika zur Behandlung von Multipler Sklerose zur Verfügung:
- Beta-Interferone (inkl. PEG-Interferon)
- Glatirameracetat
- Dimethylfumarat
- Teriflunomid
- S1P-Rezeptor-Modulatoren: Fingolimod, Siponimod, Ozanimod, Ponesimod
- Cladribin
- Natalizumab
- Ocrelizumab
- Ofatumumab
- Rituximab (keine Zulassung für Multiple Sklerose)
- Alemtuzumab
- Andere Immun-Therapeutika
Die Auswahl geeigneter MS-Immun-Therapeutika im Einzelfall richtet sich nach vielen verschiedenen Faktoren wie etwa der Verlaufsform der Multiplen Sklerose, der Krankheits-Aktivität und eventuelle vorhergehenden Behandlungen mit Immun-Therapeutika. Eine Rolle spielen auch individuelle Faktoren, zum Beispiel wie alt der Betroffene ist, wie gut er ein Medikament verträgt und ob eine bestimmte Begleit-Erkrankung oder eine Schwangerschaft vorliegt.
Die aktuelle medizinische Leitlinie für Multiple Sklerose teilt MS-Immun-Therapeutika in drei Kategorien ein – nach ihrer relativen Reduktion der Entzündungsaktivität (Schubrate, Entzündungsaktivität im MRT, schubbedingtes Fortschreiten der Erkrankung). Diese Wirksamkeitskategorien lösen das bisherige Stufenschema der MS-Therapie ab. So sind etwa bei schubförmig remittierender MS, die wahrscheinlich keinen hochaktiven Verlauf nimmt, Vertreter der Kategorie 1 (wie Beta-Interferone oder Dimethylfumarat) angezeigt.
Beta-Interferone
Beta-Interferone (auch Interferon-beta) zählen zur Gruppe der Zytokine. Das sind natürlich im Körper vorkommende Signal-Proteine, die unter anderem Immun-Reaktionen modulieren. Wie genau als Medikament verabreichte Beta-Interferone bei Multipler Sklerose wirken, ist bislang nicht geklärt.
Die Anwendung der Wirkstoffe erfolgt als Spritze – je nach Präparat unter die Haut oder in einen Muskel. Die Häufigkeit der Anwendung ist ebenfalls abhängig vom Präparat: Die meisten Präparate spritzen Betroffene mit MS sich einmal oder mehrmals wöchentlich. Verfügbar ist aber auch ein Präparat, das nur alle zwei Wochen injiziert werden muss: Dieses sogenannte pegylierte (PEG-)Interferon hat eine längere Wirkdauer als unpegyliertes Interferon.
Nebenwirkungen: Am häufigsten sind grippeähnliche Beschwerden, besonders zu Beginn der Therapie (wie Kopf- und Muskel-Schmerzen, Schüttelfrost, Fieber). Die Therapie einzuschleichen (die Dosis langsam zu steigern) oder die Spritze am Abend zu verabreichen, hilft teilweise dabei, diesen Beschwerden vorzubeugen. Zudem wirkt die Einnahme von entzündungshemmendem Paracetamol oder Ibuprofen eine halbe Stunde vor der Spritze den grippeähnlichen Symptomen entgegen.
Bei Beta-Interferon-Spritzen, die unter die Haut (subkutan) gesetzt werden, treten unter Umständen Reaktionen an der Einstich-Stelle auf – angefangen bei Rötung, Schmerzen und Juckreiz über eine lokale Entzündung bis hin zum Absterben von Gewebe (Nekrose).
Bei Menschen mit vorbekannter Depression verstärkt die Behandlung mit Beta-Interferonen unter Umständen die Depression.
Häufig entwickeln Betroffene unter Interferon-Therapie einen Mangel an neutrophilen Granulozyten und Blutplättchen sowie erhöhte Blutwerte für Transaminasen.
Zudem entwickeln sich unter der Beta-Interferon-Behandlung manchmal neutralisierende Antikörper gegen das Medikament, wodurch dieses an Wirksamkeit einbüßt.
Glatirameracetat
Glatirameracetat (GLAT) ist ebenfalls ein Immun-Modulator. Seine Wirkweise ist nicht genau bekannt. Wissenschaftler diskutieren verschiedene Mechanismen. Unter anderem gehen sie davon aus, dass GLAT die Entstehung von bestimmten T-Zellen fördert, die dafür zuständig sind, Immun-Reaktionen zu regulieren und einzudämmen.
GLAT wird je nach Dosierung einmal täglich oder dreimal wöchentlich unter die Haut gespritzt.
Nebenwirkungen: Sehr häufig rufen die GLAT-Injektionen lokale Reaktionen an der Einstich-Stelle hervor (Rötung, Schmerz, Quaddel-Bildung, Juckreiz). Häufig kommt es zu einer kosmetisch störenden lokalen Lipo-Atrophie, also dem Verlust von Unterhaut-Fettgewebe. An den betroffenen Stellen dellt sich die Haut ein.
In der Zulassungsstudie zum GLAT-Präparat entwickelten 15 Prozent der Teilnehmer mindestens einmal direkt nach einer GLAT-Injektion eine den ganzen Körper betreffende (systemische) Reaktion mit Gefäß-Erweiterung, Brustschmerz, Atemnot oder Herzklopfen.
Teriflunomid
Teriflunomid wirkt immunsuppressiv. Es hemmt die Neubildung eines Enzyms, das für das schnelle Wachstum von Zellen (Zellproliferation) wichtig ist, und zwar besonders bei Lymphozyten. Diese weißen Blutkörperchen sind an den krankhaften Immun-Reaktionen bei Multipler Sklerose beteiligt.
Menschen mit MS nehmen Teriflunomid einmal täglich als Tablette ein.
Nebenwirkungen: Sehr häufig löst Teriflunomid einen Anstieg bestimmter Leberwerte (Transaminasen), Kopfschmerzen, Haar-Verdünnung, Durchfall und Übelkeit aus.
Typische Effekte einer Teriflunomid-Therapie sind eine Abnahme der weißen Blutkörperchen und der Blutplättchen. Darüber hinaus treten weitere Blutbild-Veränderungen als häufige Nebenwirkungen auf (Mangel an Neutrophilen, Blutarmut). Ebenfalls häufig kommt es zu Infektionen, etwa der oberen Atemwege, oder zu Lippenherpes.
Gelegentlich entwickeln sich unter Teriflunomid auch Störungen peripherer Nerven (periphere Neuropathien), wie etwa ein Karpaltunnel-Syndrom.
Dimethylfumarat
Dimethylfumarat (DMF) wirkt immun-modulierend und hemmt Entzündungen. Seine genaue Wirkweise ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Bekannt ist bislang, dass Dimethylfumarat unter anderem die Bildung entzündungsfördernder Stoffe (Zytokine) reduziert. Möglicherweise wirkt es auch schützend auf Nervenzellen und Myelinscheiden.
Der Wirkstoff wird zweimal täglich als Kapsel eingenommen.
Nebenwirkungen: Am häufigsten verursacht die Einnahme von DMF Juckreiz, Hitzegefühl oder “Flush” (anfallsartig auftretende Haut-Rötung mit Hitzegefühl), Magen-Darm-Beschwerden (wie Durchfall, Übelkeit, Schmerzen im Bauch) und einen Mangel an Lymphozyten (Lymphopenie). Die Verringerung dieser wichtigen Immun-Zellen macht Betroffene anfälliger für Infektionen.
Ganz selten handelt es sich dabei um eine sogenannte Progressive Multifokale Leukenzephalopathie (PML): Diese lebensbedrohliche Viruserkrankung des Gehirns wird durch das JC-Virus hervorgerufen und hat eine schlechte Prognose. Das Risiko, daran zu erkranken, besteht grundsätzlich bei gestörter Immun-Abwehr, die zum Beispiel durch Medikamente wie DMF oder Erkrankungen wie Krebs oder Aids ausgelöst wird.
Unter der Einnahme von Dimethylfumarat kommt es auch häufiger zu einer Gürtelrose. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko für eine Protein-Urie – eine gesteigerte Ausscheidung von Eiweiß mit dem Urin.
Fingolimod
Fingolimod ist ein sogenannter S1P-Rezeptor-Modulator: Es verringert die Anzahl der Lymphozyten im Blut, indem es einen speziellen Rezeptor (Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor) blockiert. In der Folge gelangen weniger Lymphozyten aus den Lymph-Knoten ins Blut und damit auch ins zentrale Nervensystem, wo sie am Krankheitsgeschehen bei Multipler Sklerose mitwirken.
Der Wirkstoff wird einmal täglich als Kapsel eingenommen.
Nebenwirkungen: Aufgrund des beschriebenen Wirkmechanismus ist ein Mangel an Lymphozyten (Lymphopenie) ein typischer Therapie-Effekt.
Zu den schwersten Nebenwirkungen zählen Störungen der Reizleitung im Herz, die sich etwa als AV-Block äußern. Deshalb müssen Betroffene die erste Fingolimod-Kapsel unter EKG-Kontrolle einnehmen. Das gilt auch, wenn jemand nach einer mehr als einmonatigen Fingolimod-Anwendung die Einnahme für mehr als 14 Tage unterbrochen hat und sie jetzt wieder fortsetzen möchte.
Sehr häufig treten unter Fingolimod Grippe und Nasennebenhöhlen-Entzündung auf, häufig entwickeln sich Bronchitis, Kleienpilzflechte (Form von Hautpilz) und Herpes-Infektionen. Manchmal wird auch eine Kryptokokkose (eine Pilz-Infektion) beobachtet, etwa eine Kryptokokken-bedingte Hirnhautentzündung (Meningitis).
Wie unter Dimethylfumarat gibt es auch unter Fingolimod einige wenige Fälle der vom JC-Virus verursachten Gehirnerkrankung PML (40 Fälle bis Ende August 2020 bei mehr als 307.000 mit Fingolimod behandelten MS-Patienten).
Als schwerwiegende, aber nur gelegentlich auftretende Nebenwirkung von Fingolimod gilt das Makula-Ödem. Diese Augenerkrankung führt unbehandelt unter Umständen zur Erblindung.
Ein weiterer unerwünschter Effekt der Fingolimod-Therapie ist das erhöhte Risiko für bestimmte Krebsarten: Beispielsweise entwickeln sich unter Fingolimod häufig Basalzell-Krebs, eine Form von weißem Haut-Krebs, und gelegentlich Schwarzer Haut-Krebs (malignes Melanom).
Eine häufige Nebenwirkung ist auch der Anstieg der Leber-Enzyme – manchmal ein Anzeichen einer relevanten Leber-Schädigung.
Darüber hinaus gab es unter Fingolimod einzelne Fälle eines neurologischen Krankheitsbilds mit Hirn-Schwellung (posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom), eines Krankheitsbilds mit unkontrolliert überschießender Immun-Reaktion (Hämophagozytisches Syndrom) und von atypischen Multiple Sklerose-Verläufen.
Siponimod
Wie Fingolimod ist Siponimod ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator (S1P-Rezeptor-Modulator), der für die MS-Therapie die Zulassung erhalten hat. Das gilt allerdings nur für die Behandlung der aktiven sekundär progredienten MS.
Siponimod wird täglich in Tablettenform eingenommen.
Vor Therapiebeginn ist eine genetische Untersuchung des Betroffenen nötig. Dabei werden genetische Faktoren analysiert, welche die Verstoffwechslung des Wirkstoffes im Körper beeinflussen. Anhand des Ergebnisses entscheidet der Arzt, wie er Siponimod dosiert beziehungsweise ob der Betroffene es überhaupt erhalten darf.
Nebenwirkungen: Sie unterscheiden sich bei Siponimod nicht wesentlich von denen bei Fingolimod (zum Beispiel kardiale Nebenwirkungen wie AV-Block, Makula-Ödem, potenziell erhöhtes Infektionsrisiko).
Ozanimod
Ozanimod ist ein weiterer S1P-Rezeptor-Modulator, der zur MS-Therapie eingesetzt wird. Er wird einmal täglich als Kapsel eingenommen.
Nebenwirkungen: Auch hier sind die Nebenwirkungen generell die gleichen wie bei Fingolimod. Bestimmte unerwünschte Effekte sind unter Ozanimod allerdings seltener. Neben krankhaft erhöhten Leber-Enzymen zählen dazu beispielsweise auch AV-Blockierungen. Deshalb ist es bei Ozanimod – im Unterschied zu Fingolimod – nur bei MS-Patienten mit bestimmten Herz-Erkrankungen notwendig, die erste Einnahme ärztlich zu überwachen.
Ponesimod
In der EU wurde im Mai 2021 einem vierten S1P-Rezeptor-Modulator die Zulassung für die Therapie bei schubförmiger Multiple Sklerose erteilt: Ponesimod. Er wird wie die anderen Vertreter dieser Wirkstoff-Klasse einmal täglich eingenommen.
Nebenwirkungen: Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Infektionen der oberen Atemwege, erhöhte Leber-Enzyme und Bluthochdruck. Weitere unerwünschte Effekte sind zum Beispiel Harnwegs-Infekte und Kurzatmigkeit (Dyspnoe).
Cladribin
Cladribin ist ein Immun-Suppressivum, das zuerst zur Behandlung einer bestimmten Form von Blutkrebs (Haarzell-Leukämie) entwickelt und als Injektionslösung verabreicht wurde. Vor einigen Jahren wurde es dann auch für die Multiple Sklerose-Therapie zugelassen. Über verschiedene Mechanismen sorgt der Wirkstoff hauptsächlich bei Lymphozyten für den Zell-Tod (Apoptose).
Die Cladribin-Therapie bei Multipler Sklerose besteht aus zwei Therapie-Zyklen, die sich über zwei Jahre erstrecken. Pro Jahr sind zwei Kurzzeit-Einnahmephasen vorgesehen: In zwei aufeinanderfolgenden Monaten nimmt der Betroffene an jeweils vier bis fünf Tagen ein bis zwei Cladribin-Tabletten ein.
Nebenwirkungen: Sehr häufig verursacht die Behandlung mit Cladribin-Tabletten einen Mangel an Lymphozyten (Lymphopenie). Häufig entwickelt sich eine verminderte Anzahl der Neutrophilen Granulozyten. Gürtelrose tritt ebenfalls gehäuft auf, besonders im Zusammenhang mit einem Lymphozyten-Mangel.
Auch schwere Infektionen traten in Studien bei Cladribin-behandelten MS-Patienten öfter auf als bei Teilnehmern, die stattdessen ein Schein-Medikament (Placebo) erhielten. In Einzelfällen führten solche Infektionen zum Tod.
Darüber hinaus hat man in klinischen Studien und bei der langfristigen Nachbeobachtung von Betroffenen unter Cladribin-Therapie festgestellt, dass sich bei ihnen häufiger Krebs-Erkrankungen entwickeln.
Natalizumab
Der gentechnisch hergestellte Antikörper Natalizumab blockiert besonders bei Lymphozyten ein spezielles Protein auf der Zell-Oberfläche. Dadurch sind die Immun-Zellen nicht mehr in der Lage, ins zentrale Nervensystem einzuwandern und dort die für Multiple Sklerose typischen Entzündungen auszulösen.
Üblicherweise wird Natalizumab alle vier Wochen als Infusion verabreicht.
Nebenwirkungen: Sehr häufige Nebenwirkungen sind Harnwegs-Infektionen, Nasen-Rachen-Entzündung, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Fatigue (übermäßige Erschöpfung) und Gelenk-Schmerzen genannt. Häufig entwickeln sich Nesselsucht (Urtikaria), Erbrechen und Fieber. Gelegentlich kommt es zu schweren allergischen Reaktionen auf das Medikament.
Besonders relevant ist das Risiko, dass sich unter Natalizumab eine Progressive Multifokale Leukenzephalopathie (PML) entwickelt. Bis Ende August 2020 wurden bereits mehr als 800 Fälle dieser gefährlichen Virus-Erkrankung des Gehirns bei Betroffenen unter Natalizumab-Gabe registriert. Deshalb wird der Arzt den Einsatz dieses Wirkstoffes sorgfältig abwägen und Betroffene engmaschig überwachen.
Eine weitere seltene infektiöse Komplikation unter Natalizumab-Therapie sind Herpesvirus-assoziierte Infektionen.
Ocrelizumab
Auch Ocrelizumab ist ein gentechnisch hergestellter Antikörper. Er zählt zu den sogenannten Anti-CD20-Antikörpern, da er an ein bestimmtes Oberflächen-Protein (CD20) von B-Lymphozyten bindet, was zu deren Auflösung führt. Die B-Lymphozyten sind an der Schädigung der Nervenhüllen (Myelinscheiden) und Nervenzell-Fortsätze bei Multipler Sklerose beteiligt.
Die Anwendung erfolgt in Form von Infusionen. Die Therapie beginnt mit zwei Infusionen zu je 300 mg Ocrelizumab im Abstand von 14 Tagen. Danach erhalten Menschen mit MS alle sechs Monate eine Infusion zu 600 mg.
Nebenwirkungen: Als häufigste Nebenwirkung treten Infusions-Reaktionen auf (zum Beispiel Juckreiz, Ausschlag, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Fieber, Schüttelfrost leichter Blutdruck-Anstieg oder -Abfall). Sie fallen meist mild aus.
Es wurden einige wenige Fälle von Progressiver Multifokaler Leukenzephalopathie (PML) bei MS-Patienten beobachtet, die kurz zuvor auf Ocrelizumab umgestellt wurden. Die meisten davon wurden zuvor mit Natalizumab behandelt (siehe oben).
Grundsätzlich ist es wichtig, während einer Behandlung mit Anti-CD-20-Antikörpern auf Infektionen infolge einer gestörten Immunabwehr (opportunistische Infektionen) zu achten, ebenso wie auf die Reaktivierung von Hepatitis B-Viren nach einer ausgeheilten Infektion.
Ofatumumab
Ofatumumab ist ein weiterer Anti-CD20-Antikörper. Menschen mit Multipler Sklerose injizieren sich den Wirkstoff selbst mit einem Fertig-Pen unter die Haut. Eingeleitet wird die Therapie mit drei Injektionen im Abstand von sieben Tagen. Nach einer einwöchigen Pause folgt die nächste Injektion und dann alle vier Wochen eine weitere.
Nebenwirkungen: Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Ofatumumab zählen Infektionen der oberen Atemwege, Harnwegs-Infektionen, lokale Reaktionen an der Einstich-Stelle (Rötung, Schmerz, Juckreiz, Schwellung) und Injektions-bedingte Reaktionen im gesamten Körper (Fieber, Kopfschmerzen, Muskel-Schmerzen, Schüttelfrost, Müdigkeit).
Wie bei allen Anti-CD20-Antikörpern besteht allgemein das Risiko, dass opportunistische Infektionen auftreten oder eine ausgeheilte Hepatitis-B-Infektion wieder aufflammt.
Rituximab
Auch Rituximab ist ein Anti-CD20-Antikörper und wird manchmal in der Therapie von Multipler Sklerose eingesetzt. Allerdings ist er für dieses Anwendungsgebiet nicht offiziell zugelassen (weder in der EU noch in der Schweiz).
Mehr über Anwendung, Neben- und Wechselwirkungen von Rituximab erfahren Sie hier.
Alemtuzumab
Alemtuzumab ist ein weiterer gentechnisch hergestellter Antikörper, der sich gegen ein bestimmtes Oberflächen-Protein (CD52) von Lymphozyten richtet. Indem er an dieses Protein bindet, setzt er die Auflösung der Immun-Zellen in Gang.
Der Wirkstoff wird als Infusion verabreicht – im ersten Jahr an fünf aufeinanderfolgenden Tagen und ein Jahr später an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Bei Bedarf ist es möglich, Alemtuzumab auch ein drittes und viertes Mal an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu verabreichen, jeweils in einem Mindestabstand von 12 Monaten zur vorherigen Gabe. Insgesamt sind also maximal vier Therapie-Zyklen möglich.
Nebenwirkungen: Sehr häufig ruft Alemtuzumab Infusions-Reaktionen (Kopfschmerzen, Hautreaktionen, Fieber, Erbrechen), Infektionen (zum Beispiel mit Herpes-Viren) und autoimmune Schilddrüsen-Erkrankungen hervor. Als häufige Nebenwirkung tritt die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP) auf, eine seltene Autoimmun-Krankheit. Gelegentlich entwickeln Menschen mit Multipler Sklerose während der Therapie Störungen der weißen und roten Blutzellen. Selten kommt es zu autoimmunen Nieren-Erkrankungen.
Nach Bekanntwerden von neuen, teils schweren Nebenwirkungen hat man die Anwendung von Alemtuzumab eingeschränkt und mit bestimmten Vorsichts-Maßnahmen verknüpft. Zu diesen Nebenwirkungen zählen neue immunvermittelte Krankheiten (wie Autoimmun-Hepatitis, Hämophilie A) sowie akute Herz-Kreislauf-Nebenwirkungen (wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Lungen-Blutung), die bislang vor allem ein bis drei Tage nach einer Alemtuzumab-Infusion aufgetreten sind.
Andere Immuntherapeutika
Azathioprin: Dieses Immun-Suppressivum ist für die Behandlung verschiedener Erkrankungen zugelassen – in der EU (aber nicht in der Schweiz) unter anderem auch für die Behandlung von Multipler Sklerose. Es sollte wegen der schlechten Studienlage aber nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden – etwa, wenn ein MS-Betroffener zusätzlich an einer Erkrankung leidet, die sich mit Azathioprin gut behandeln lässt (zum Beispiel Morbus Crohn). Mehr über Wirkung, Anwendung und Nebenwirkungen von Azathioprin lesen Sie hier.
Mitoxantron: Dieser unter anderem immun-suppressiv wirkende Arzneistoff ist in der EU und der Schweiz für die Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen. Wegen der schlechten Studienlage und seiner hohen Giftigkeit kommt er aber nur als Reservemedikament in Ausnahmefällen zum Einsatz. Zu seinen schwerwiegendsten Nebenwirkungen zählen Herzschädigung und ein erhöhtes Risiko für Blutkrebs (Leukämie).
Methotrexat: Der Wirkstoff kommt in niedriger Dosierung als Entzündungshemmer und Immunsuppressivum bei verschiedenen Erkrankungen zur Anwendung. Für die MS-Therapie besitzt er allerdings keine Zulassung. Selten setzen Ärzte Methotrexat aber trotzdem bei MS ein. Empfohlen wird dies wegen nicht ausreichend belegter Wirksamkeit und fehlender Zulassung aber nur bei Menschen, die neben der MS gleichzeitig an einer Erkrankung leiden, die eine Behandlung mit Methotrexat erfordert. Mehr über diesen Wirkstoff lesen Sie hier.
Cyclophosphamid: Auch dieser immun-suppressive Wirkstoff wird in seltenen Fällen bei Multipler Sklerose gegeben, obwohl er keine Zulassung dafür besitzt und seine Wirksamkeit bei dieser Erkrankung nicht ausreichend belegt ist. Es gilt hier deshalb das Gleiche wie für Methotrexat: Cyclophosphamid sollte nur bei Betroffenen verabreicht werden, die zusätzlich zur MS eine Zweit-Erkrankung haben, die eine Behandlung mit diesem Wirkstoff erfordert. Mehr über Cyclophosphamid erfahren Sie hier.
Immun-Therapie bei primär progredienter MS (PPMS)
Zur Behandlung einer primär progredienten Multiplen Sklerose ist bislang nur ein einziges Medikament zugelassen – Ocrelizumab. Laut aktueller Leitlinie sollten Ärzte gegebenenfalls auch Rituximab anwenden, auch wenn es keine Zulassung für Multiple Sklerose besitzt (Off-Label-Anwendung, das heißt außerhalb seiner Zulassung).
Bei älteren Menschen sinkt die Wirksamkeit dieser beiden Anti-CD20-Antikörper, während die Häufigkeit von Komplikationen ansteigt. Der Leitlinie zufolge ist es daher wichtig, die Anwendung von Ocrelizumab beziehungsweise Rituximab bei PPMS-Betroffenen ab dem 50. Lebensjahr sehr sorgfältig abzuwägen – vor allem dann, wenn sich im MRT keine entzündliche Aktivität im zentralen Nervensystem erkennen lässt.
Im Einzelfall ist allerdings eine entsprechende Immun-Therapie auch in dieser Altersgruppe vertretbar (begrenzt auf zwei Jahre), wenn bei einem Betroffenen der Grad der Behinderung rasch zunimmt und der Verlust der Selbstständigkeit droht.
Immun-Therapie bei sekundär progredienter MS (SPMS)
Wirksame Immun-Therapeutika gibt es derzeit nur für die aktive SPMS – also für eine sekundär progrediente MS mit Schüben oder neuen entzündlichen Nerven-Schädigungen im MRT. Für Betroffene kommen laut Leitlinie Siponimod, Beta-Interferone, Cladribin und die Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab und Rituximab in Betracht. Argumente für eine Immun-Therapie mit diesen Wirkstoffen sind zum Beispiel junges Lebensalter, kurze Krankheits-Dauer und geringer Grad der Behinderung.
Nur in Ausnahmefällen sollte der Arzt bei aktiver SPMS Mitoxantron verordnen, weil dieser Wirkstoff zum Teil erhebliche Nebenwirkungen verursacht (siehe oben).
Bei unbehandelten Menschen mit nicht aktiver SPMS ist grundsätzlich keine Immun-Therapie vorgesehen. Nur wenn die Behinderung rasch zunimmt und der Verlust der Selbstständigkeit droht, ist im Einzelfall eine Behandlung mit einem der Anti-CD20-Antikörper möglich, zunächst begrenzt auf zwei Jahre. Es fehlt zwar der Nachweis, dass eine solche Behandlung hier hilft, aber eine andere Therapie-Option gibt es in diesen Fällen bislang nicht.
Immun-Therapie beim Klinisch isoliertem Syndrom (KIS)
Menschen, die erstmals einen Schub mit Symptomen einer Multiplen Sklerose erleben, ohne dass alle Diagnosekriterien für MS erfüllt sind, sollten eine Immun-Therapie erhalten. Für die Behandlung eines solchen Klinisch isolierten Syndroms (KIS) sind bislang allerdings nur einige Beta-Interferone und Glatirameracetat zugelassen.
Gegebenenfalls ist es aber auch möglich, mit einer Immun-Therapie bei KIS noch abzuwarten, wenn von einem eher milden Verlauf auszugehen ist (beispielsweise, weil die Schub-Symptome nur leicht ausgeprägt sind). In diesem Fall wird der Arzt den Betroffenen lediglich engmaschig überwachen, um den Verlauf der Erkrankung zu beobachten.
Dauer der Immun-Therapie
Wie lange eine Immun-Therapie bei Multipler Sklerose notwendig ist und wann es sinnvoll ist, diese zu beenden, wurde bislang noch nicht ausreichend in Studien untersucht. Experten gehen aber davon aus, dass mit zunehmendem Alter beziehungsweise Dauer der Erkrankung die entzündliche Aktivität der Krankheit eher abnimmt. Der Effekt einer Immun-Therapie verkleinert sich dadurch. Zudem ist das Risiko für Nebenwirkungen bei vielen Immun-Therapeutika umso höher, je älter der Betroffene ist.
Deshalb sollten der Arzt und der Betroffene selbst nach einer gewissen Zeit gemeinsam entscheiden, ob sie die Immun-Therapie versuchsweise unterbrechen möchten.
Eine solche Therapie-Pause ist zum Beispiel nach mindestens fünfjähriger Gabe von Beta-Interferonen oder Glatirameracetat denkbar, wenn der Betroffene vor Beginn der Immun-Therapie nur eine geringe Krankheits-Aktivität (zum Beispiel wenig Schübe, geringe entzündliche Aktivität im MRT) zeigte und es während der Therapie zu keiner Krankheits-Aktivität kam. Für einige andere Immun-Therapeutika wie Natalizumab, Fingolimod oder Ocrelizumab gibt es keine Studien zu dieser Fragestellung.
Eine von vornherein begrenzte Therapie-Dauer gibt es bei Alemtuzumab (maximal vier Therapie-Zyklen) und Cladribin (maximal zwei Therapie-Zyklen). Wenn Betroffene nach Ende einer solchen Behandlung keine Krankheits-Aktivität zeigen, sollte der Arzt zunächst keine anderen Immun-Therapeutika verordnen. Es sind aber regelmäßige Kontroll-Untersuchungen empfehlenswert.
Sonstige Therapien
Schon vor einigen Jahrzehnten kamen Forscher auf die Idee, dass sich die Autoimmun-Erkrankung Multiple Sklerose möglicherweise durch einen “Neustart” des Immunsystems behandeln lässt, und zwar mit einer autologen Stammzell-Therapie (autologe hämatopoetische Stammzell-Transplantation, aHSCT). Vereinfacht ausgedrückt funktioniert die Therapie wie folgt:
Man gewinnt Blut-Stammzellen aus dem Körper des Betroffenen – also Stammzellen, welche die verschiedenen Blutzellen hervorbringen. Dann wird das Immunsystem medikamentös zerstört, etwa mit Medikamenten, die zur Chemotherapie bei Krebs zum Einsatz kommen. Anschließend bekommt der Betroffene seine zuvor entnommenen Stammzellen über eine Infusion wieder zurück. Diese bauen dann ein neues blutbildendes System auf – und damit auch ein neues zelluläres Immunsystem.
Die aHSCT soll vor allem bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose mit hoher Krankheits-Aktivität von Nutzen sein. Derzeit laufen weltweit mehrere Studien zur autologen Stammzell-Transplantation bei Multipler Sklerose, unter anderem in Deutschland.
In Deutschland, Österreich und einigen anderen EU-Ländern ist die aHSCT derzeit nicht zur Behandlung von MS zugelassen, in einzelnen anderen Ländern aber schon (zum Beispiel Schweden). In der Schweiz erhielt die aHSCT im Jahr 2018 eine Zulassung für die MS-Therapie unter bestimmten Auflagen.
Bei Multipler Sklerose ist allgemein eine ausgewogene Ernährung ratsam. Für einen positiven Effekt bestimmter Diätformen gibt es bislang allerdings keinen Beweis. Faktoren wie Übergewicht und Rauchen beeinflussen den Krankheitsverlauf unter Umständen negativ. Daher ist es ratsam, auf ein normales Körpergewicht zu achten und möglichst auf Nikotin zu verzichten.
Liegt ein nachgewiesener Mangel an Vitamin D vor, ist es sinnvoll diesen auszugleichen, zum Beispiel mit einem Vitamin-D-Präparat. Die Einnahme eines solchen Präparats kommt auch in Betracht, wenn kein Vitamin-D-Mangel besteht. Dabei sollte Betroffenen aber klar sein, dass für eine Vitamin-D-Zufuhr bislang kein positiver Einfluss auf den Multiple Sklerose-Verlauf nachgewiesen wurde.
Von extrem hoch dosierten Vitamin-D-Präparaten (Vitamin-D-Ultra-Hochdosistherapie) raten Experten wegen nicht auszuschließender Gesundheitsrisiken ab.
Symptomatische Therapie
Multiple Sklerose ruft vielfältigste Symptome hervor. Gezielte Maßnahmen helfen, diese Beschwerden zu lindern und so die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die symptomatische Therapie ist daher ein unverzichtbarer Teil der Multiple Sklerose-Therapie. Sie umfasst neben medikamentösen vor allem auch nicht-medikamentöse Maßnahmen wie Physio-Therapie, Ergo-Therapie, Logopädie oder Psycho-Therapie.
Physio-Therapie
Die Physio-Therapie mit ihrem breiten Spektrum an Techniken und Methoden hilft gegen verschiedensten MS-Symptome:
Spastiken – also krankhaft angespannte, steife, verkrampfte Muskeln, die oft auch schmerzen – sind ein häufiges Symptom von Multipler Sklerose. Durch eine regelmäßige Physio-Therapie lassen sich Spastiken und ihre Folgen lindern.
Auch Menschen, die aufgrund der MS an beeinträchtigenden Störungen der Koordination ihrer Bewegungen (Ataxien) leiden, profitieren von einer regelmäßigen Physio-Therapie. Ziel dabei ist, die Koordination zu fördern.
Verursacht eine Multiple Sklerose Störungen der Darmfunktion (chronische Verstopfung und/oder Stuhl-Inkontinenz), kommt neben anderen nicht-medikamentösen Methoden ebenfalls eine Physio-Therapie inklusive Beckenboden-Training in Frage.
Oft ist es sinnvoll, wenn Menschen mit MS die verschiedenen Übungen, die sie mit ihrem Physio-Therapeuten trainieren, auch zuhause regelmäßig durchführen (zum Beispiel das Beckenboden-Training oder Übungen gegen Muskel-Verkrampfungen). Der Therapeut gibt entsprechende Anleitungen für das selbstständige Training mit.
Ergo-Therapie
Die Ergo-Therapie soll erreichen, dass Menschen mit Multipler Sklerose ihren Alltag ohne fremde Hilfe bewältigen und möglichst lange unabhängig bleiben. Alle Übungen orientieren sich dabei an den Bedürfnissen des Betroffenen im Alltag.
Beispielsweise empfiehlt sich eine Ergo-Therapie bei gestörter Koordination der Bewegung (Ataxie) und unwillkürlichem, rhythmischem Zittern (Tremor). Betroffene üben mithilfe des Therapeuten unter anderem normale, energiesparende Bewegungen ein und trainieren gezieltes Greifen nach Gegenständen. Bei einem bestehenden Handicap lernen sie außerdem, damit umzugehen und auf “Ersatz-Bewegungen” auszuweichen.
Bei Bedarf erproben und trainieren Therapeuten mit den Erkrankten auch den Umgang mit Hilfsmitteln wie Rollator oder Handgelenks-Gewichten.
Die Ergo-Therapie macht die Beeinträchtigungen des Körpers und Gehirns meist nicht rückgängig. Sie hilft aber den Betroffenen, möglichst lange selbstständig zu bleiben. Dafür brauchen Menschen mit MS Geduld und müssen üben – mit und ohne Therapeuten.
Medikamente gegen Symptome
Falls nötig, setzt der Arzt bei verschiedenen MS-Symptomen auch Medikamente zur Linderung ein – meist begleitend zu nicht-medikamentösen Maßnahmen. Einige Beispiele:
- Anti-Spastika (wie Baclofen, Tizanidin) gegen Spastiken
- Fampridin bei Gang-Störungen
- Anti-Cholinergika (beispielsweise Trospiumchlorid, Tolterodin, Oxybutynin) bei überaktiver Blase
- Desmopressin gegen nächtlichen Harn-Drang (Nykturie) oder häufiges Wasserlassen bei meist nur kleinen Harn-Mengen (Pollakisurie)
- Schmerzmittel, beispielsweise gegen Kopfschmerzen und Nervenschmerzen
- PDE-5-Hemmer (wie Sildenafil) bei Erektions-Störungen (Erektile Dysfunktion)
- Antidepressiva (vor allem Selektive-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI) bei depressiver Verstimmung
Rehabilitation
Während die symptomatische Therapie auf die Verbesserung einzelner Multiple Sklerose-Symptome abzielt, geht es bei einer Rehabilitation um mehr – nämlich darum, dass Menschen mit MS insgesamt wieder besser am täglichen Leben teilhaben.
Dazu versuchen Ärzte und Therapeuten zum Beispiel, bestehende Beeinträchtigungen bei Alltagsaktivitäten (beispielsweise beim Gehen, Anziehen oder bei der Körper-Hygiene) zu beseitigen oder zumindest zu verbessern.
Zudem gilt es, drohende Beeinträchtigungen zu vermeiden, etwa auch im Beruf. Außerdem zielt die Rehabilitation bei Multipler Sklerose darauf ab, die Selbstständigkeit und Mobilität der Betroffenen zu fördern und ihre soziale Einbindung in Familie, soziales Umfeld und Beruf zu erhalten beziehungsweise zu verbessern.
Demnach sollten Ärzte Menschen mit MS in folgenden Situationen eine Rehabilitation anbieten:
- Bei anhaltender, funktionell bedeutsamer Beeinträchtigung nach einem MS-Schub
- Wenn im Verlauf der Erkrankung der Verlust wichtiger Funktionen und/oder der Selbstständigkeit und/oder eine erhebliche Zunahme körperlicher bzw. psychosomatisch bedingter Funktionsstörungen droht
- Wenn der Verlust der sozialen und/oder beruflichen Integration droht
- Bei funktionell gering Betroffenen, um sie bei der Krankheits-Bewältigung zu unterstützen und sie strukturiert über die Hintergründe der Erkrankung, die notwendigen Therapien und mögliche Selbsthilfe-Maßnahmen aufzuklären (Psycho-Edukation)
- Bei schwerstbehinderten Menschen mit MS mit klar definierten Therapie-Zielen und der Notwendigkeit einer interdisziplinären Versorgung
Mehrwöchig und multimodal
Um diese Ziele zu erreichen, braucht es eine mehrwöchige und multimodale Rehabilitation. “Multimodal” bedeutet, dass sich das Reha-Programm aus unterschiedlichen Bausteinen zusammensetzt – individuell angepasst an jeden Betroffenen. Häufige Bausteine der MS-Rehabilitation sind zum Beispiel:
- Physio-Therapie
- Ergo-Therapie
- Bewegungs- und Trainings-Therapien
- Sprech-Therapie
- Techniken zur Krankheits-Bewältigung
- Aktivierend therapeutische Pflege zur Förderung der Alltags-Kompetenzen
- Schulung und Information zur Krankheit, zur Therapie und anderen Aspekten
Ambulant oder stationär
Grundsätzlich ist eine MS-Rehabilitation ambulant oder stationär in entsprechenden Reha-Einrichtungen möglich. Entscheidend im Einzelfall sind das Ausmaß bestehender Beeinträchtigungen und die individuellen Reha-Ziele.
Für Menschen, die noch ausreichend mobil sind und nur geringe funktionelle Einschränkungen haben, kommt eine regelmäßige ambulante funktionelle Therapie in Frage. Dagegen ist bei Betroffenen mit mittelschwerer bis schwerer Beeinträchtigung durch die Multiple Sklerose eine stationäre Rehabilitation vor allem bei eingeschränkter Mobilität ratsam.
Manchmal ist auch eine Behandlung in einer Fachklinik für Multiple Sklerose sinnvoll, wo zusätzlich eine intensive multimodale Therapie möglich ist (MS-Komplex-Behandlung). Das ist der Fall bei komplexen Beschwerdebildern oder Begleit-Erkrankungen, die zeitnah medizinisch abgeklärt werden müssen oder weitergehende medizinische Behandlungs-Maßnahmen erfordern.
Komplementäre und alternative Heilmethoden
Komplementäre und alternative Heilverfahren sind keine klar und allgemeingültig definierten Begriffe. Im Allgemeinen werden sie als Ergänzung (komplementäre Verfahren) beziehungsweise Alternative (alternative Verfahren) zur konventionellen (schulmedizinischen) Behandlung einer Erkrankung betrachtet.
Komplementäre und alternative Heilmethoden wecken oft besonderes Interesse bei Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Homöopathie, Pflanzenheilkunde (Phytotherapie), Akupunktur – in diese und andere Verfahren setzen viele Menschen große Hoffnung.
Die Wirksamkeit von komplementären und alternativen Heilmethoden (generell oder bei Multipler Sklerose) ist in der Regel nicht wissenschaftlich belegt. Bei manchen Methoden können auch Risiken bestehen.
Menschen mit Multipler Sklerose sollten deshalb immer zuerst mit ihrem behandelnden Arzt besprechen, wenn sie ergänzend zur schulmedizinischen Behandlung andere, komplementäre Heilmethoden anwenden wollen. Eine schulmedizinisch notwendige Behandlung der Multiplen Sklerose durch alternative Heilmethoden zu ersetzen, ist dagegen nicht ratsam.
In der folgenden Tabelle ist eine Auswahl alternativer/komplementärer Verfahren aufgeführt, die bei Multipler Sklerose Anwendung finden:
Methode | Beurteilung |
Akupunktur | Sehr oft ergänzend (komplementär) zur MS-Therapie eingesetzt. Der Versuch, damit beispielsweise Schmerzen zu lindern, kann sinnvoll sein. |
Akupressur | Hier gilt das Gleiche wie für die Akupunktur. |
Amalgam-Entfernung | Das aus den Füllungen austretende Quecksilber soll angeblich an der MS-Entstehung beteiligt sein. Der wissenschaftliche Nachweis dafür fehlt. |
Bestimmte Ernährungsformen/Diäten | Bisher konnte für keine Ernährungsform oder Diät eine positive Wirkung auf Verlauf und Symptome von MS nachgewiesen werden. Experten empfehlen allgemein eine abwechslungsreiche, ausgewogene Kost mit viel frischem Gemüse, Obst, Fisch und ungesättigten Fettsäuren, aber wenig Fleisch und Fett. |
Bienengift-Therapie (Api-Therapie) | Bienengift soll entzündungshemmende Prozesse im Körper anstoßen. Der wissenschaftliche Nachweis einer Wirksamkeit bei MS fehlt aber. Zudem besteht das Risiko schwerer allergischer Reaktionen. Gilt daher als gefährlich und nicht ratsam! |
Enzymkombinationen / Enzym-Therapie Enzymtherapie | Sollen krankheitsauslösende Immun-Komplexe Immunkomplexe abbauen. Eine großangelegte Studie konnte aber keine Wirksamkeit bei MS nachweisen. |
Frischzellen-Therapie | Risiko schwerer Allergien (bis hin zu Kreislaufversagen) sowie Infektionsrisiko. Gilt daher als gefährlich und nicht ratsam! |
Homöopathie | Manchen Betroffenen zufolge bessern sich damit MS-Symptome wie Schwindel, Blasen- und Stuhlgang-Beschwerden, Konzentrations-Probleme, Stuhlgangbeschwerden, Konzentrationsprobleme, mangelnde Belastbarkeit sowie das Allgemeinbefinden. |
Immunaugmentation (Verstärkung der Immun-Reaktion) | Birgt ein Infektions- und Allergierisiko und die Gefahr, dass sich die MS verschlechtert. Ist also gefährlich und nicht ratsam! |
Intrathekale Stammzell-Therapie | Injektion körpereigener Stammzellen in den Rückenmarkskanal. Birgt das Risiko schwerer bis tödlicher Nebenwirkungen. Ist also gefährlich und nicht ratsam! |
Schlangengift | Birgt das Risiko schwerer Allergien. Gilt daher als gefährlich und nicht ratsam! |
Schweinehirn-Implantation in die Bauchdecke | Kann die MS verschlechtern, schwere allergische Reaktionen hervorrufen und zum Tode führen. Ist also gefährlich und nicht ratsam! |
Tai-Chi | Die langsam und bewusst ausgeführten Übungen können sich positiv auf manche MS-Symptome auswirken, z. z.B. B. auf eine gestörte Bewegungs-Koordination Bewegungskoordination (Ataxie). |
Qigong | Teil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Die Übungen wirken stresslindernd und entspannend, was die MS-Therapie unterstützen kann. |
Sauerstoff-Überdruck-Therapie (hyperbarer Sauerstoff) | Soll das Fortschreiten von MS aufhalten, was aber in Studien nicht bewiesen werden konnte. |
Weihrauch | Entzündungshemmende Wirkung. Gute Ergebnisse etwa bei entzündlichen Darm-Erkrankungen Darmerkrankungen und rheumatoider Arthritis. Aber zur Wirksamkeit bei MS gibt es keine Studien. |
Weihrauch | Entzündungshemmende Wirkung. Gute Ergebnisse bei entzündlichen Darmerkrankungen und rheumatoider Arthritis. Zur Wirksamkeit bei MS gibt es keine Studien. |
Yoga | Die verschiedenen Übungen (etwa zur Bewegung, Koordination, Entspannung) können sich positiv auf Symptome wie Spastik und Fatigue auswirken. |
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