Medikation und Leitlinien-Adhärenz: Arzt, heile dich selbst?
Untersuchungen zeigen, dass Ärzte und deren Familien Vorgaben zur Einnahme von Medikamenten mit geringerer Wahrscheinlichkeit befolgen als Personen ohne medizinische Kenntnisse.
Man sollte meinen, dass insbesondere medizinisch (aus-)gebildete Menschen etablierte Leitlinien zu verschreibungspflichtigen Medikamenten befolgen. Laut einer groß angelegten Studie aus den USA ist das aber häufig nicht der Fall. Dieses Ergebnis widerspricht früheren wissenschaftlichen Hypothesen: Viele Experten hatten in der Vergangenheit vermutet, dass mehr Kenntnisse und eine Kommunikation auf Augenhöhe mit anderen Medizinern dazu führen, dass Ärzte, die auch Patienten sind, Anweisungen genauer befolgen als andere Patienten.
Die neue Studie basiert auf Daten aus Schweden, die mehr als ein Jahrzehnt umfassen. Die Analyse ergibt Hinweise darauf, warum Ärzte und deren Familien häufig Anweisungen zu Medikationen ignorieren. Insgesamt zeigt die Untersuchung, dass sich die übrige Bevölkerung in 54,4 Prozent der Fälle an die allgemeinen Medikationsrichtlinien hält, während Ärzte und deren Angehörige um 3,8 Prozentpunkte hinterherhinken.
„Es existieren viele Bedenken, dass Menschen entsprechende Anweisungen nicht verstehen, dass sie zu komplex sind, um sie zu befolgen, und dass Menschen ihren Ärzten nicht vertrauen“, erklärt Amy Finkelstein, Professorin am Department of Economics am Massachusetts Institute of Technology (MIT; USA). „Wenn das der Fall ist, müsste man eigentlich die größte Compliance bei solchen Patienten sehen, die selbst Ärzte sind, oder auch bei deren nahen Verwandten. Wir waren überrascht, dass das Gegenteil der Fall ist: dass Ärzte und deren engste Familie sich weniger wahrscheinlich an ihre eigenen Medikationsrichtlinien halten.“
Millionen von Datenpunkten
Zur Durchführung der Studie untersuchten die Wissenschaftler schwedische Daten aus den Jahren 2005 bis 2016, die auf 63 Richtlinien für verschreibungspflichtige Arzneimittel angewendet wurden. Anhand der Daten konnten die Forscher auch feststellen, bei welcher der Personen, für die Daten vorlagen, es sich um einen Arzt handelte. In der Studie waren enge Verwandte als Lebenspartner, Eltern und Kinder definiert. Insgesamt wurden Daten zu 5.887.471 Personen analysiert, auf die mindestens eine der untersuchten Medikationsrichtlinien zutraf. Davon waren 149.399 Ärzte oder nahe Verwandte.
Anhand von Informationen zum Erwerb verschreibungspflichtiger Medikamente, zu Krankenhausbesuchen und Diagnosen konnten die Forschenden feststellen, ob sich die Menschen an die Medikationsrichtlinien hielten; dafür untersuchten sie, ob die Entscheidungen über verschreibungspflichtige Medikamente mit den Erkrankungen dieser Patienten übereinstimmten. In der Studie betrafen sechs Leitlinien Antibiotika, 20 die Einnahme von Medikamenten durch ältere Menschen, 20 konzentrierten sich auf Medikamente in Verbindung mit bestimmten Diagnosen und 17 betrafen den Gebrauch verschreibungspflichtiger Medikamente während der Schwangerschaft.
Einige Leitlinien empfahlen die Verwendung eines bestimmten verschreibungspflichtigen Medikamentes, zum Beispiel die Bevorzugung von Schmalspektrum-Antibiotika bei einer Infektion. Andere Richtlinien betrafen den Verzicht auf bestimmte Medikamente, wie die Empfehlung, dass schwangere Frauen Antidepressiva meiden sollten.
Von den 63 in der Studie verwendeten Leitlinien befolgten Ärzte und deren Familien die Standards in 41 Fällen seltener, wobei der Unterschied 20-mal statistisch signifikant ausfiel. In 22 Fällen befolgten Ärzte und deren Angehörige die Leitlinien häufiger, wobei der Unterschied nur dreimal statistisch signifikant war.
„Was wir ziemlich überraschend festgestellt haben, ist, dass sie [Ärzte] sich im Durchschnitt weniger an Richtlinien halten“, berichtet Dr. Maria Polyakova, Assistenzprofessorin an der Stanford University School of Medicine (USA). „Deshalb versuchten wir in dieser Studie auch herauszufinden, was die Experten anders machen.“
Andere Antworten ausschließen
Wenn sich Ärzte und deren nahe Angehörigen seltener an medizinische Leitlinien halten als der Rest der Bevölkerung, was genau erklärt dieses Phänomen? Bei der Suche nach einer Antwort prüfte und verwarf das Forschungsteam mehrere Hypothesen.
Erstens steht die geringere Compliance derjenigen mit besserem Zugang zu Fachwissen in keinem Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status. In der Gesellschaft insgesamt besteht ein Zusammenhang zwischen Einkommen und Adhärenzniveau, aber Ärzte und ihre Familien bilden eine Ausnahme von diesem Muster. Wie die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung schreiben, ist ein besonderer „Zugang zu Ärzten mit einer geringeren Adhärenz trotz, und nicht wegen des hohen sozioökonomischen Status“ dieser Familien verbunden.
Darüber hinaus fanden die Forschenden keinen Zusammenhang zwischen dem bestehenden Gesundheitszustand und der Therapietreue. Sie untersuchten auch, ob eine stärkere Vertrautheit mit verschreibungspflichtigen Medikamenten – weil die Betroffenen selber Arzt oder mit einem verwandt sind – dazu führt, dass Menschen häufiger solche Medikamente einnehmen, als die Leitlinien es empfehlen. Dies scheint nicht der Fall zu sein. Die niedrigeren Adhärenzraten für Ärzte und deren Angehörige waren ähnlich wie in anderen Patientengruppen – unabhängig davon, ob die Richtlinien die Einnahme oder die Nichteinnahme von Medikamenten betrafen. „Es gibt eine Reihe alternativer Erklärungen erster Ordnung, die wir ausschließen könnten“, erklärt Polyakova.
Ein medizinisches Rätsel lösen
Stattdessen glauben die Forscher, dass die Antwort darin besteht, dass Ärzte über „mehr Informationen zu Richtlinien“ für verschreibungspflichtige Medikamente verfügen – und diese Informationen dann für sich selbst einsetzen. In der Studie erwies sich der Unterschied in der Einhaltung von Leitlinien zwischen Medizinern und Nichtfachleuten bei Antibiotika als am stärksten: Ärzte und deren Angehörige verhalten sich dabei um 5,2 Prozentpunkte weniger konform mit den Empfehlungen als alle anderen.
Die meisten Leitlinien in diesem Bereich empfehlen, dass Patienten eine Behandlung eher mit einem Schmalspektrum- als mit einem Breitspektrum-Antibiotikum beginnen sollten, da es zielgerichteter ist. Letztere könnten zwar zu einer mit höherer Wahrscheinlichkeit zur Eradikation der für eine Infektion verantwortlichen Erreger führen, jedoch begünstigt ihr häufigerer Einsatz bekanntermaßen auch die Entwicklung von Resistenzen. Daher fordern die Richtlinien beispielsweise für Infektionen der Atemwege zunächst ein gezielteres Antibiotikum.
Das Problem ist jedoch, dass das, was auf lange Sicht gut für die Allgemeinheit ist – zuerst gezieltere Medikamente zu versuchen – für den einzelnen Patienten möglicherweise nicht gut funktioniert. Aus diesem Grund verschreiben Ärzte sich selbst und ihren Familien möglicherweise eher Breitspektrum-Antibiotika, erklären die Forschenden. Studienautorin Finkelstein verdeutlicht: „Aus der Public-Health-Perspektive möchte man gegen [die Infektion] mit dem Schmalspektrum-Antibiotikum angehen. Aber natürlich möchte jeder Patient seine Infektion so schnell wie möglich loswerden.“ Die Wissenschaftlerin ergänzt: „Sie können sich vorstellen, dass Ärzte die Leitlinien weniger wahrscheinlich befolgen als andere Patienten, weil sie […] wissen, dass es diese Kluft gibt zwischen dem, was für sie als Patienten gut ist, und dem, was gut für die Gesellschaft ist.“
Weitere vielsagende Daten fanden die Studienautoren zu verschiedenen Arten verschreibungspflichtiger Medikamente, die normalerweise während einer Schwangerschaft vermieden werden sollten. Bei apothekenpflichtigen Medikamenten (Kategorie C), bei denen die empirische Evidenz zu den damit verbundenen Risiken etwas schwächer ist, wiesen Ärzte und deren Familien in dieser Analyse eine um 2,3 Prozentpunkte niedrigere Adhärenzrate als andere Personen auf – was in diesem Fall bedeutet, dass die Arzneimittel mit höherer Wahrscheinlichkeit eingenommen werden. Bei Kategorie-D-Medikamenten mit etwas stärker ausgeprägter Evidenz für Nebenwirkungen beträgt diese Diskrepanz nur 1,2 Prozentpunkte. Auch hier kann das Expertenwissen von Ärzten deren Handeln beeinflussen.
„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Fachleute wahrscheinlich ein differenzierteres Verständnis davon haben, was die richtige Vorgehensweise für sie selbst ist und wie diese von den Leitlinien abweichen könnte“, erklärt Polyakova.
Möglicherweise sollte in Leitlinien zu Antibiotika die damit verbundenen Abwägungen in Bezug auf die Allgemeinheit und die eigene Gesundheit expliziter dargestellt werden, sodass sie für Patienten besser zu verstehen sind, meint Polyakova. „Vielleicht wäre es besser, wenn die Richtlinien transparent wären und darin formuliert würde, dass etwas empfohlen wird, nicht weil es [immer] die beste Vorgehensweise für den einzelnen ist, sondern weil es das Beste für die Gesellschaft ist“, erklärt sie.
Weitere Forschungen könnten auch darauf abzielen, solche Bereiche zu identifizieren, in denen eine geringere Einhaltung der Leitlinien durch Fachleute mit besseren Gesundheits-Outcomes verbunden sein könnte – um zu sehen, wie oft Ärzte sozusagen Recht haben. Oder, wie die Forscher in dem Artikel schreiben: „Eine wichtige Richtung für die weitere Forschung ist es, festzustellen, ob und wann eine Nichteinhaltung [von Leitlinien] im besten Interesse des Patienten ist.“
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